Alibi vom Führer
Von Dieter A. Graber
HANAU. Am Abend des 8. September 2013 marschierte ein hochgewachsener Mann im Trachtenjanker in die Polizeistation von Bad Schwalbach, stellte sich den Beamten als Lutz H. vor und erklärte jovial: „Sie suchen nach mir – nun, da bin ich.“ Mangelndes Selbstbewusstsein war noch nie das Problem des Großwildjägers und zeitweiligen Pharmavertreters, dessen Schwager Jürgen Volke zu diesem Zeitpunkt gerade mal zwanzig Stunden zuvor in Hanau erschossen worden war. Bereits damals galt Lutz H. als Hauptverdächtiger, wenn auch wohl eher mangels eines besseren.
Vor der 1. Großen Strafkammer erinnert sich jetzt Kommissar Michael Z. an den Tag, da Lutz H. erstmals ins Fadenkreuz der Fahnder geriet. Es ist der Beginn eines enormen Fahndungsaufwandes, der die Hanauer Kripo monatelang bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit trieb, der aber auch, das wird sich noch weisen, nicht ganz ohne Pannen ablief. Verdächtigt wurde Lutz H., so der Zeuge, „weil er einen Rechtsstreit ums Erbe führte und er als Jäger auch Waffenträger war“. Das mag ein wenig mager erscheinen und reichte, wie der Fortgang der Geschichte bewies, ja auch nicht für einen Haftbefehl. Gleichwohl haben sie ihn erst mal in Gewahrsam und dann in die Mangel genommen, und zwar noch nächtens in der Polizeistation am Freiheitsplatz, die Kommissare Michael Z., Bernd F. und die Hanauer Staatsanwältin Bettina Fauth.
„Auffällig war die Art, wie er sich präsentierte – selbstsicher, lässig, kooperativ. Nicht wie eine Person, die unschuldig ist“, sagt der Zeuge. Unschuldige sähen anders aus. Irgendwie wütender, beleidigter, empörter. Nicht so Lutz H.: „Er war sich sicher, am nächsten Morgen wieder entlassen zu werden.“ – „Das könnte“, wirft Richter Peter Graßmück zweifelnd ein, „doch auch bedeuten, dass er sich nichts vorzuwerfen hatte.“ – „Ich habe es anders empfunden“, kommt es fast trotzig zurück. Kommissar Z. hat 40 Jahre Polizeidienst auf dem Buckel. Da kennt man seine Pappenheimer. Da riecht man, ob einer schwindelt. Aber das ist nun mal keine gerichtsfeste Fähigkeit …
Tatsächlich konnten sie dem Verdächtigen so gegen halb eins in der Frühe, nach eineinhalb Stunden Vernehmung, ein paar Widersprüche nachweisen. Er hatte angegeben, über einen Bekannten vom Tod des Jürgen Volke erfahren zu haben – was der aber noch gar nicht wissen konnte. Gleichwohl machte man erst mal Feierabend. Alle seien zu erschöpft gewesen.
Außerdem verfügt Lutz H. über kein Alibi für die Tatzeit. Er gab an, auf die beiden Kinder seiner Lebensgefährtin Banu D. aufgepasst zu haben, die in jener Nacht mit einem Bekannten unterwegs gewesen sei. Zuerst zu einem türkischen Feinschmeckerrestaurant in der Wiesbadener Innenstadt, dann zu einer Bar nach Mainz-Kastel. Das sind von Nastätten, ihrem Wohnort, erst mal 38 Kilometer bis zur Landeshauptstadt (einundvierzig Minuten Fahrtzeit) und dann noch mal gut elf Kilometer über die A 671 nach Kastel, d, h. achtzehn Minuten. Angaben, die später noch wichtig werden dürften. Derweil will sich Lutz H. auf einem privaten TV-Kanal eine Doku angesehen haben. „Irgendwas mit dem III. Reich“, memoriert der Zeuge, „n-tv oder N24, da laufen ja immer solche Sachen.“ Banu D. sei morgens gegen zwei wiedergekommen. Und das war’s.
Nein, ein gutes Alibi sieht anders aus, zumindest konstruierter, ein klein wenig nachprüfbarer vielleicht, wenn’s denn schon erfunden wäre. Und obgleich es in seiner Situation, also als Mordverdächtiger, nicht eben sinnvoll zu sein scheint, mit seinen Schießeisen zu prahlen, zählte Lutz H. den Beamten ein wenig stolz sein gesamtes Arsenal auf: fünf Kurz- und neun Langwaffen.
Vielleicht ist es das, was im Jiddischen Chuzpe genannt wird, jene Dreistigkeit, geboren aus dem Dünkel des vermeintlich Überlegenen, der sich die Wirklichkeit zurechtbiegt nach seinen Vorstellungen. Wer kann das wissen? Jedenfalls gab Lutz H. seinen Beruf damals mit „Arzt“ an. Abitur in Kärnten, Studium der Medizin in Innsbruck und Wien. Zumindest dies scheint gelogen zu sein. Das Abiturzeugnis, heißt es, habe er gefälscht. Dass er zeitweise als Pharmavertreter unterwegs war, ist wohl wahr. Einen Doktortitel führt er heute nicht mehr.
Seine Verteidiger von Dahlen und Gärtner widersprechen der Verwertung der Vernehmung. Ihr Mandant sei nicht ordnungsgemäß belehrt worden.