Zwei Kumpel und die Lausejungs

Von Dieter A. Graber
HANAU. Mit ihrer zarten Jungmädchenstimme, die ein wenig verschreckt und sehr zerbrechlich klingt und sich verliert im großen Saal 215 des Hanauer Landgerichts, sagt Leonie, sie wünsche dem Angeklagten „alles denkbar Schlechte dieser Welt“. Leonie ist ein bildhübsches Mädchen, schlank, das Haar zum Pferdeschwanz gebunden, sehr 19-jährig das Gesicht und die zierliche Figur. Überstürzt, als wolle sie die Vergangenheit, mit der sie doch längst abgeschlossen zu haben glaubte, ein für allemal entsorgen, jetzt und hier im Zeugenstand, beschreibt sie das Martyrium ihres jungen Lebens: den ewigen Streit mit ihm, seine Gewaltausbrüche, seine Alkoholexzesse, seine Drogensucht, seine kriminellen Eskapaden. „Leider Gottes wollte ich seine bösen Seiten nicht sehen“, räumt sie ein. Vielleicht stimmt es ja, dass nur dort, wo einmal übergroße Liebe war, Platz genug ist für grenzenlosen Hass.
Leonie und Patrick waren mal ein Paar. Zwei Jahre lang. Sie war sechzehn, als sie ihn kennenlernte. Ein arbeitsscheuer, doch gut aussehender Bursche ohne Schulabschluss und Beruf, sechs Jahre älter als sie. Einer, der sich treiben ließ im Strudel des Lebens. Jobbte mal hier, mal da, war bei der Müllabfuhr, Beikoch in einem Steinheimer Restaurant, Palettenbauer, Helfer im Flüchtlingsheim. Nie lange. Irgendwann holte ihn stets der trübe Alltag ein oder seine Straffälligkeit. Meist Eigentumsdelikte. Gerade sitzt er wieder eine Haftstrafe ab. Und jetzt kommt diese Geschichte hinzu …
Es ist zwei Jahre her. Es geschah hinterm Rewe-Markt in Klein-Auheim. Patrick bedrohte Jadon und Samuel, zwei Jungs von zwölf, dreizehn Jahren, die dort auf ihren Skateboards herum karriolten, mit Pfefferspray. Einem nahm er das Mobiltelefon, ein Samsung S5, ab. Mit dem schwang er sich auf sein Rad und gab Fersengeld. Patrick sagt zerknirscht, das sei eine Dummheit gewesen, zugegeben, aber eigentlich mehr ein Missverständnis, habe er doch nur mal kontrollieren wollen, ob die Lümmel ihn mit dem Handy heimlich gefilmt hätten. „Dann wollte ich es ihnen wieder zurückgeben.“ Gefilmt bei was? „Vielleicht beim Ko…“ – also sich übergeben, wie der Benny meint, sein Kumpel, denn der Patrick sei ganz schön betrunken gewesen. Und in diesem Zustand … – auweia, meint der Benny, da könne er ganz schön aggressiv werden. Das weiß auch Leonie zu bestätigen.
Benny und Patrick pflegten seinerzeit des Öfteren um die Häuser zu ziehen. Quatschen, die Zeit totschlagen, ein paar zur Brust nehmen. Ihr Revier waren die Parkflächen und Anlieferungsrampen von Supermärkten, Bänke auf Kinderspielplätzen, das Gestade des Mains zwischen Steinheim, Klein-Auheim, Hainburg und Klein-Krotzenburg. Joints und Jacky Cola. Kronkorken und Pfandflaschen. Billigbier und Büchsendrinks. So geschah es auch am Tattag.
Patrick erzählt sein Leben. Als er fünf war, trennten sich die Eltern. „Der Vater soff und schlug die Mutter“, erinnert er sich. Die sitzt jetzt voller Anspannung hinten im Saal, eine pummelige Frau mit kurzem, blondem Haar und Brille, eine Handtasche auf dem Schoß, den Blick starr auf ihren Jungen gerichtet. Nach der Scheidung war sie mit einer Freundin zusammengezogen. Eine Art moderne matriarchalische Lebensgemeinschaft: Patrick wuchs inmitten fremder Kinder und zweier Frauen auf, von denen eine seine Mutter war. Es tat ihm nicht gut. Es hätte keinem gut getan. Er versagte in der Schule, wohl auch infolge häufiger Umzüge und seines Desinteresses am Unterricht, dem er nur noch selten beiwohnte. Mit sechzehn flüchtete er sich zum Vater. Das wird der Abwärtsspirale den entscheidenden letzten Dreh gegeben haben.
Der Hanauer Rechtsanwalt Philipp Rodi kennt Patrick seit dessen früher Jugend. Er ist auch heute wieder sein Verteidiger, wie er es schon häufiger war vor anderen Gerichten. Patricks Vorstrafenregister ist beachtlich. Beschaffungsdelikte vornehmlich. Und es gibt da noch ein paar Verfahren, die nun über ihm schweben wie dräuende Gewitterwolken; es geht um eine geklaute Geldbörse und um ein verschwundenes Laptop. Alkohol und Drogen seien das Verhängnis seines Mandanten, sagt Rodi.
Nach dem Vorfall in Klein-Auheim war Patrick untergetaucht. Monatelang. „Ich bin geflüchtet aus Angst vor der Polizei“, sagt er. Dies ist halt seine Art, mit Problemen umzugehen. Irgendwann war dann ein Haftbefehl in der Welt und die Dinge nahmen ihren Lauf. Vielleicht kann man das aber auch als glückliche Fügung bezeichnen. Denn im Gefängnis hat Patrick einen geregelten Tagesablauf. Er arbeitet in der Wäscherei. Er könnte dort sogar einen richtigen Beruf erlernen, hofft sein Anwalt.
Die 1. Große Strafkammer will dem Angeklagten noch eine Chance geben: Sie verurteilt ihn auf Antrag von Staatsanwalt Joachim Böhn wegen räuberischer Erpressung in einem minderschweren Fall zu zwei Jahren und zehn Monaten, wobei jene Haftstrafe, die er gerade verbüßt, eingerechnet ist. Außerdem bekommt er die Möglichkeit einer „Therapie statt Strafe“, wie sie Paragraph 35 BtMG vorsieht.
Ach ja; Jadon und Samuel, die Skateboard-Lausejungs vom Spielplatz, sind zur ihrer Zeugenaussage nicht erschienen. Unentschuldigt. Sie werden ihre Gründe haben.